Heiteres Berufungsraten 
          
          Eigentlich 
          wäre die Lage auf dem Arbeitsmarkt schlimm genug. Doch von Jahr 
          zu Jahr werden Berechnungsmethoden aus dem Hut gezaubert, die auch den 
          versiertesten Mathematiker ins Staunen versetzen. Die besagen nämlich, 
          dass es unter dem Strich im Vorjahr, im Vormonat oder gar am Vortag 
          noch schlimmer war. „Ja, geht denn das?“, fragt sich der 
          besorgte Erwerbstätige angesichts von 5 Millionen registrierten 
          Arbeitslosen, und sieht sich auf ein Minderheiten-Dasein zustürzen. 
          Inzwischen weiß auch er, dass die wahre Zahl um 50 % höher 
          anzusetzen ist, denn nach deutscher Definition ist nur die-/derjenige 
          arbeitslos, die/der bei der Bundesagentur gemeldet, sofort verfügbar 
          ist und weniger als 15 Stunden in der Woche arbeitet. Wer in einer bezahlten 
          Fortbildung der nächsten beschäftigungslosen Phase entgegenfiebert 
          oder für einen Euro Gräber aushebt oder Verkehrsinseln bepflanzt, 
          steht dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung - und ist daher auch 
          nicht arbeitslos. 
          
          Zahlenjonglage und Wortakrobatik wie sie kunstvoller nicht dargebracht 
          werden könnte. Dem wollen die Wirtschaftsunternehmen in nichts 
          nachstehen. Sie bemühen sich der Hoffnungslosigkeit entgegenzuwirken, 
          indem sie Anzeigen schalten, die Mut machen. Da könnte es einem 
          zuweilen glatt die Tränen der Rührung in die Augen treiben, 
          so unbedarft, so scheu und liebevoll gehen sie zu Werke. Welches Herz 
          eines Erwerbslosen könnte bei der folgenden Überschrift unerweicht 
          bleiben: „Ist es ein Job? Oder ist es Ihr Leben?“ Jawoll, 
          nieder mit den langweiligen, kleingeistigen Einleitungen von Stellenanzeigen. 
          Der Arbeitssuchende hat ein Recht auf Pathos. Menschen mit Herzblut 
          und Hirnschmalz braucht das Gewerbe, Leute, die sich berufen fühlen 
          und nicht stupide in Pflichterfüllung erstarren. Es geht noch weiter, 
          denn dieses Unternehmen will es wirklich wissen. Spätestens bei 
          der Zeile „Es gibt sie noch: Dinge, deren Faszination man sich 
          nicht entziehen kann, Aufgaben, die beflügeln, Herausforderungen, 
          die glücklich machen“ muss es doch jeden, der des Schreibens 
          mächtig ist, arbeitslos oder nicht, an den PC treiben. Aber was 
          wird eigentlich gesucht? Das erfährt der geneigte Leser im Kleingedruckten: 
          Ausgelobt werden die Traumjobs Metallograph und Prüfstandmechaniker. 
          Faszination Werkstoffcharakterisierung, wer könnte sich diesem 
          Abenteuer entziehen? Wer fühlt nicht den Adrenalinspiegel steigen 
          bei dem Gedanken, eine Schadensanalyse durchführen zu dürfen? 
          Und wann sonst, als während der Überwachung des Dauerlaufs 
          eines Spezialprüfstandes, kann wahres Glück erfahren werden? 
          
          Hier werden Menschen an die Maschinen gerufen, die sich nicht von Vorschulphantasien 
          anstecken ließen und von der eigenen Tierarztpraxis träumten, 
          sich im Cockpit eines Boliden sahen oder eine Karriere als Finanzbeamter 
          anstrebten. Auf die Frage: „Was willst Du denn mal werden?“, 
          antworteten sie mit dem Brustton der Überzeugung: „Ich werde 
          Metallograph/ Prüfstandsmechaniker.“ Um ihren Worten mehr 
          Nachdruck zu verleihen, ließen sie den Vorschlaghammer auf Papas 
          Schraubstock sausen, bis er nicht mehr zu öffnen war und bekamen 
          dafür ein lebenslanges Werkstattverbot. Aber Kinderträume 
          brennen sich in die Herzen ein und dort schlummern sie im Dornröschenschlaf, 
          bis sie von Anzeigen wie dieser wach geküsst werden.
          
          Autofans mit Tendenz zum Materialismus werden womöglich eher zum 
          Kfz-Leasing-Unternehmen wechseln, das mit der Überschrift wirbt: 
          „Der clevere Weg zum Traumwagen. Und zu Ihrem neuen Job.“ 
          Aber hier ist Obacht geboten. Den Traumwagen gibt es natürlich 
          nur für den Leasing-Kunden, zu dem sich der Bewerber gern erklären 
          darf, allerdings ist mit erheblichen Gehaltseinbußen zu rechnen. 
          Wer also unbedingt dem Lockruf des Golfes folgen will, sollte sich der 
          Vertriebsgesellschaft von Süßwaren anschließen, die 
          damit wirbt „ ...und einen Firmenwagen fahre ich auch!“ 
          Aha, denken sich die Freunde des Verbrennungsmotors, ich ahne zwar, 
          wer ich bin, aber wer ist in diesem Falle „ich“? „Ich“ 
          ist die Verkaufsförderin B. Schmitt, von der das Zitat stammt. 
          Frau Schmitt lässt uns wissen, dass sie nicht nur in der Lage ist, 
          einen PKW zu steuern, sondern sie versorgt zudem ihre Kunden mit Top-Produkten. 
          Schokolade, Bonbons, Kaugummi. Und sogleich ist wieder der Leser gefordert: 
          „Trauen Sie sich das auch zu?“ Dies wird den meisten Führerscheinbesitzern 
          ein verschmitztes Lächeln abringen: Einen PKW, bis unter das Dach 
          mit Süßkram gefüllt, durch die Lande schaukeln, das 
          kennt man noch von der letzten Tankstellenrast auf dem Weg nach Bielefeld, 
          als die Kinder begannen zu quengeln. Kann ja wohl jeder. 
          
          „Wo finde ich eine Aufgabe, bei der ich weiter denken kann?“ 
          fragt eine Versicherungsgesellschaft und beantwortet sie noch vor Fließtextbeginn 
          selbst. „Gute Frage“ gibt der Absender der Botschaft unumwunden 
          zu und kommt zur Sache: Konzerncontroller/in gesucht. Die erste Aufgabe 
          des Kandidaten müsste wohl sein, die eigene Identität des 
          Unternehmens gerade zu biegen, denn so viel Zurückhaltung dürfte 
          in dieser Branche wenig umsatzförderlich sein.
          
          Da ist ein Konkurrent schon zuversichtlicher. „Menschen machen 
          Versicherungen erst gut“, behauptet der Konzern und hat damit 
          so Recht. Wer erinnert sich nicht gern an Herrn Kaiser? Den haben wir 
          doch alle sehr gemocht. Der hat immer so nett gelächelt, war immer 
          so gut angezogen und er war überall anzutreffen. Im Fußballstadion, 
          auf der Straße, im Restaurant. Nur bei der Arbeit, also in seinem 
          Büro, war er nie. Das versteht jeder Arbeitssuchende.
          
          Die Liste der Mut machenden Beispiele könnte endlos fortgesetzt 
          werden. Ja, dieses Land ist im Aufbruch, wir ziehen uns selbst aus der 
          Krise. Die Erfolgszahlen, die in die Welt hinausposaunt werden, sprechen 
          eine deutliche Sprache. So auch eine schwäbische Bausparkasse, 
          die den höchsten Gewinn in ihrer Geschichte meldet. Dabei haben 
          wir doch alle immer gedacht, bausparen sei spießig. Ist es nicht. 
          Wie fortschrittlich das Unternehmen ist, zeigt sich in Teil 2 der Jubelarie. 
          Denn da steht zu lesen, dass der sozialverträgliche Stellenabbau 
          fortgesetzt wird. Das kann eigentlich nur bedeuten, dass zunächst 
          alle Metallographen/Prüfstandselektroniker entlassen werden und 
          dann die Menschen mit Führerscheinklasse 3, dann die Controller 
          und zuletzt diejenigen, die Versicherungen erst gut machen. Das wäre 
          zwar schlecht für die Bausparkasse, denn damit wären alle 
          Arbeitnehmer weg, die sich berufen fühlen. Den Arbeitsmarkt würde 
          es jedoch nicht weiter treffen. Denn für diese Leute ist ja gottseidank 
          gesorgt. 
          
          © ODeeN 2006
          
          
          
          
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